Vom 1. Juni bis 12. Juli 2021 ist Klimaspuren von Graubünden quer durch die Schweiz an den Lac Leman gewandert. 600 Gäste haben die Gruppe, die die Expedition vorbereitet und geführt hat, einen oder mehrere Tage begleitet. Klimaspuren ist 670 Kilometer in 42 Etappen gewandert und hat am Wegrand 73 Orte des Protestes und Spielräume für mehr Klimaschutz besucht. In Genf angekommen, zieht Klimaspuren ein erstes Fazit in 12 Schritten.

1. Wissen, wem die Stunde schlägt

Die Bevölkerung an Klimaspurens Wegrand wartet auf gute Vorschläge zum Klimaschutz und ist bereit, auf schlechte zu verzichten. Und so traf Klimaspuren zwischen Ilanz und Genf auf vielfältige Initiativen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Während die offizielle Politik den Stillstand verkündet, sind die Zivilgesellschaft und die Privatwirtschaft findig und rege und zeigen, wie Klimaschutz handfest funktioniert. Dieser Anschauungsunterricht macht Mut. Wenn es der Schweiz mit dem Ziel Netto Null ernst ist, müssen wir diese Kräfte rasch und nachhaltig stärken. Sie alle verbindet ein roter Faden: Widerstand trommeln und anklagen ist wichtig, nötig aber ist zu zeigen, wie besser machen geht. Und Klimaschutz braucht Gerechtigkeit: Die, die für die Klimakrise hauptverantwortlich sind, sollen den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft bezahlen. 

Darum: Die Bevölkerung will anschaulichen, gerechten und handfesten Klimaschutz.  

2. Menschen mitnehmen

Klimaschutz ist auch ein Lebensstil. Er stiftet Sinn und Erkenntnis und er macht Lust. Klimaschutz ist nicht nur Kompensationsmathematik mit Umwegrechnungen, Vergütungen und Bestrafungen. Klimaschutz ist eine soziale Bewegung. Sie braucht Wissenschaft, sie braucht auch Musik, Theater und Kunst. 

Darum: Die Klimapolitik muss die Menschen mitnehmen. Nicht nur mit Zahlen und Modellen, sondern auch mit anschaulichen Projekten hin zu Netto Null. 

3. Klimavernünftig bauen 

Fossilfreie Siedlungen werden zum Standard. Nachholbedarf besteht bei der Sanierung der Altbauten, Öl- und Gasheizungen dürfen nicht mehr eingebaut werden. Alle wissen das und dennoch zögern die, die von der überholten Technik profitieren, den Ersatz von Öl, Gas und Kohle hinaus so lange es noch geht. Ungelöst ist der hohe Anteil von Beton im Tief- und Hochbau der Schweiz – 90 Prozent. Auch wenn die Zementindustrie ihre Prozesse mit viel Geld verbessert, so trägt die Betonfabrikation mit ihrem hohen CO2-Ausstoss massiv zur Klimalast bei; auch schlägt der Kalksteinabbau grosse Wunden in die Landschaft. In der Schweiz mit ihren vielen Wäldern liegt die Klimazukunft im Holzbau, die Forstwirtschaft rüstet sich ebenso auf diese Zukunft, wie die Technik, die Architektur und das Können der Zimmerleute sie formen. Alt wie das Holz ist die Kreislaufwirtschaft. Sie ist im 20. Jahrhundert weitgehend auch aus dem Bau verschwunden. Kluge Architekten und findige Handwerkerinnen zeigen nun an grossen Bauten, welche Möglichkeiten alte Bauten bergen, wenn sie umgenutzt statt abgebrochen werden.

Darum: Klimavernünftig bauen, heisst die Kreislaufwirtschaft leben. Aus dem Lager- wird das Wohnhaus, aus dem Büroklotz der Mehrgenerationenturm.

4. Anders unterwegs sein

Die Klimaspurinnen sahen, spürten, hörten und rochen unterwegs in den Städten, Agglomerationen und über Land, wie massiv der Autoverkehr ist. Nur auf E-Mobilität hoffen, kann keine klimaverträgliche Lösung sein. Vielmehr liegt die Zukunft im Fuss- und Veloverkehr und in der Stärkung von Bahn und Bus zuungunsten von Auto und Flugzeug. Und in der Erfindung intelligenter kollektiver Mobilität für den ländlichen Raum. Es ist aber erstaunlich und schön zu erfahren, wie weit man zu Fuss kommt, der Fortbewegungsart, die die weitaus längste Strecke der Menschheitsgeschichte ausmacht. 

Darum: Ohne substanzielle Reduktion des Auto- und Lastwagenverkehrs und ohne neue Formen der Mobilität wird kein Klimaschutz zu machen sein.

5. Klimaverträglich bauern

Hautnah hat Klimaspuren die Spaltung der Landwirtschaft erlebt. Da die offizielle Politik des Bauernverbandes, der Agroindustrie, des Bundes und der Kantone, die die Bauern und Bäuerinnen in der Wachstumsspirale festzurrt: Grössere Tierbestände, mehr Maschinen, mehr Kapital, mehr Verschuldung. Dort die Bäuerinnen und Bauern, die an der Realität einer klimaunvernünftigen Landwirtschaft leiden. Bei vielen ist das Umdenken rege. Denn sie spüren die Folgen der Hitze und Trockenheit. Sie probieren regenerative Anbaumethoden und die Reduktion der Tierbestände. Sie haben die Möglichkeit entdeckt, auf den grossen Dächern ihrer Ställe Sonnenanlagen zu installieren und verzweifeln an einer Politik, die sich viel zu stark um die Interessen der Stromwirtschaft kümmert. 

Darum: Ohne substanziellen Klimaschutz und ohne Anpassung der Landwirtschaft an die Folgen der Klimakrise, kann keine nächste Agrarreform auskommen.

6. Besser essen und trinken

Auch wenn die Hebel der Klimapolitik am Umbau der grossen Strukturen gestellt werden, sind die vielen kleinen Hebel des Alltags nicht zu vernachlässigen. So ist Tiere essen ein Klimatreiber erster Güte und Hauptverursacher der Amazonaszerstörung. Und wenig oder kein Fleisch essen ein klimawirksamer, persönlicher Entscheid. Sechs Wochen lang assen und tranken sich die Klimaspurer durch die Gastwirtschaften der Schweiz. Sie mussten staunen – der Lebensstil, der auf Fleisch verzichtet, und noch mehr der, der gar keine tierischen Produkte verzehren will, gilt nach wie vor als exotisch. Nach dem zehnten Salatteller und der zehnten Portion Teigwaren hofft man vergebens auf die Phantasie und das Können der Köche. Und gelernt hat Klimaspuren – die köstlichen Weine aus der Herrschaft, vom Bieler- oder Genfersee haben ein Verpackungsproblem, denn ihre Glasflaschen sind Klimaschleudern ersten Ranges und keine Alternative ist weit und breit in Sicht. 

Darum: Solange pflanzliche Kochkunst nicht alltäglich auf dem Teller liegt, beherrscht das Fleisch und der Käse das Mittag- und Abendessen. Das wird und muss sich ändern. 

7. Netto Null erforschen und bauen

Die Wissenschaft sucht findig und rege Antworten auf die Klimakrise. Sie will mit Forschung und Entwicklung in Architektur, Landschaft und Planung die erwarteten Folgen mindern: Städte brauchen Schatten, Durchzug, Wasser, Biodiversität und Freiraum. Und die Ingenieurinnen erfinden Speicher von Sonnenenergie oder entwickeln Beton, der weniger CO2 verursacht. Und sogar in der Klimaschleuder Nr.1, in der Erdölraffierie, suchen Ingenieure Wege, Klimalasten zu mindern. Hoffnungsträger erster Güte sind Solarthermie und Photovoltaik, die sehr viel mehr vermöchten, würde die Politik ihre Bedingungen grundlegend verbessern. Doch geht das Tempo des Ausbaus so gemächlich weiter, dauert es 300 Jahre bis das Potential der Sonne genutzt sein wird. Und Forschung genügt nicht – die Energiewende und die Klimavernunft müssen gebaut werden. Das braucht Schlosser, Mechanikerinnen, Sonneninstallateure – alle diese Berufe haben gravierende Nachwuchsprobleme. 

Darum: Die Forschungslandschaft zur Klimakrise und der Balancierung ihrer Folgen muss genügend Spielraum, Freiraum und Geld haben. Die Handwerksberufe, die die Klimavernunft bauen, müssen gefördert werden. 

8. Dörfer stärken

Die Klimabewegung ausserhalb der Zentren zeigt, was Phantasie und Präsenz im ländlichen Raum bewirken können. Das ist nötig, wenn die Anliegen des Klimaschutzes gesamtschweizerisch mehrheitsfähig werden sollen. Die Phantasie und Freude, mit der Klimagruppen von Graubünden bis Genf Klimaspuren empfangen haben, schafft Hoffnung. Also – viele kleine Bewegungen stärken die grosse. 

Darum: Klimaschutz braucht Gesichter, nicht nur Modelle; Menschen, nicht nur Zahlen, im ganzen Land, nicht nur in der Stadt.

9. Politisch Druck machen

Die Klimakrise ist keine Wanderung, sondern ein Schnellzug. Für Tempo sorgt weiterhin Klimastreik. Ob bei Reto Gurtner in der Weissen Arena oder im philosophischen Salon, ob beim Unternehmer Johannes Senn in St. Gallen, auf Gemeindebesuch in Wil oder bei Fabian Vogelsperger, dem Direktor des Parc Chasseral in Nods – alle sagen: «Klimastreik, Fridays for Future haben uns bewegt.» Der Druck dieser Bewegung auf Netto Null subito wird stärker – gut so, nötig so. Verbinden wir uns mit ihnen zu einer grossen, gesamtschweizerischen Bewegung. 

Darum: Binden wir all die Bürgerinitiativen, Unternehmerinnen, Firmen und Erfinder zur Klimabewegung. Sie fügen zum Ruf «So nicht» den Ruf «Besser so». 

10. Klima als Menschenrecht schützen

Das unversehrte Leben ist ein Grundrecht. Wer die Klimakrise anheizt, ist zu hindern, das weiterhin zu tun. Vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wartet die Klage der KlimaSeniorinnen auf das Urteil gegen die Schweiz. In Holland ist der fossile Konzern Shell für seine Geschäfte verurteilt worden. Und Hunderte weitere Klimaklagen sind vor den Gerichten weltweit hängig. 

Darum: Die Klimabeschädiger müssen auf allen Ebenen zur Rechenschaft gezogen werden, um sie zu zwingen, ihr Handeln zu verändern. 

11. Finanzplatz umbauen

Mass, Achtsamkeit, Sorge – klimavernünftiges Handeln eines jeden, der Gesellschaft und des Staates sind gut. Nötig aber ist auch die handfeste Reform der grossen Hebel. Sie sind in den Pensionskassen, in den Versicherungen und in den Banken. Sie finanzieren von der Schweiz aus die Ausbeute und Verarbeitung von Kohle, Erdöl und Erdgas substanziell mit. 

Darum: Der Finanzplatz ist mit Gesetzen auf Netto Null zu verpflichten: Keine Investition, keine Beteiligungen mehr an Kohle-, Erdöl- und Erdgasgeschäften.

12. Wander-, Landschafts- und Menschenfreude

Klimaspurinnen und -spurer haben viel zugehört, geschaut und geredet, was Klimaschutz und Klimanot handfest, anschaulich und alltäglich ist. Sie sind 670 Kilometer gewandert durch die Stadt am Alpenrhein, durch die Grossagglomeration Zürich, durchs intensiv gebrauchte Mittelland, durch den einsamen Jura und die Weiten der Romandie. Wer so lange läuft, lernt die Landschaft anders sehen, denn seine Langsamkeit verändert die Wahrnehmung. Klimaspuren war oft in der Gebrauchsschweiz unterwegs und hat ihre ungemeine Vielfalt an Räumen, Pflanzen, Tieren, Gerüchen und Geräuschen entdeckt. Dutzende Bäuerinnen, Förster, Fabrikanten, Forscherinnen und Künstler standen Red und Antwort; über 500 Leute zottelten in Gruppen zwischen zehn und vierzig Menschen stundenlang über Land. Sie stifteten Bekanntschaften, schmiedeten Pläne, und ernährten Hoteliers und Wirtinnen am Wegrand. Sie hatten eine gute Zeit miteinander – das ist ein grosser Schatz von Klimaspuren.

Darum: Wandert in der Schweiz solang es sie noch gibt.

Klimaspuren ist ein grossangelegtes Projekt und geniesst breite Unterstützung. Klimaspuren dankt den Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen, die ihr Zustandekommen und ihren Erfolg ermöglicht haben. Klimaspuren verneigt sich vor den gut 600 Gästen, die mitgewandert sind, mitgeredet und am Hoffnungsbild Netto Null mitgemalt haben. Die Ergebnisse der Expedition sind in Text und Bild auf klimaspuren.ch mit Berichten, Kommentaren, Fotografien und 45 Postkarten dokumentiert. Klimaspuren hat ihn in Genf in Anwesenheit eines Vertreters der UNO der Welt überreicht. Der Dokumentarfilm von Enrico Fröhlich über Klimaspuren wird am Klimakongress vom 30. September bis 3. Oktober 2021 in Salecina, Maloja, seine Uraufführung feiern. An den Klimagesprächen in Flüeli Ranft am 18. und 19 .Juni 2022 wird das Buch zu Klimaspuren Vernissage haben. Und das Orchester «Netto Null Gebläse» wird die Suite zum Abenteuer Ilanz – Genf in 42 Tagen zum Besten geben. 

Zoe Stadler, Lucie Wiget, Sylvain Badan, Köbi Gantenbein und Dominik Siegrist. 
Die Kerngruppe von Klimaspuren, Genf, 12. Juli 2021
www.klimaspuren.ch